Gendergaga oder ein Zeichen von Ungleichheit und Unterdrückung? Wie Sprache Bilder in unserem Gehirn erzeugt und warum es wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein.
Zuerst ein kleines Experiment: Ein Vater und sein Sohn verunglücken im Auto. Während der Vater verstirbt, wird der Sohn zu einer Not-OP ins Krankenhaus gebracht. Als der diensthabende Chirurg sich über den Jungen auf dem OP-Tisch beugt, sagt dieser: „Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn!“
Na – welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Handelt es sich um ein homosexuelles Ehepaar? Ist einer vielleicht der leibliche und der andere der rechtliche Vater? Nein, beim Chirurgen handelt es sich um die Mutter, die in der Geschichte im sogenannten generischen Maskulinum steht.
Beim generischen Maskulinum handelt es sich um die männliche Form eines Wortes, hier Chirurg, die Männer und Frauen einschließt bzw. keinen Rückschluss auf das Geschlecht zulässt – rein theoretisch jedenfalls. Aber so einfach ist das nicht. Wie in dieser Geschichte, wird dabei der Akteur meist mit einem Mann verknüpft. Es ist also weder eine neutrale Formulierung, noch schließt es automatisch alle Geschlechter mit ein.
Für die meisten Berufsgruppen gilt die männliche Form als gängige Variante und Norm, die weibliche wird durch das Anhängen von -in zur Abweichung der Norm. Kann das sein, oder handelt es sich hier um sogenanntes Gendergaga?
Was die einen als Gendergaga bezeichnen, ist für die anderen eine Form der männlichen Herrschaft. Der Mann wird sprachlich nicht weiter gekennzeichnet, muss das auch gar nicht, da die männliche Form gleichzeitig neutral verwendet wird.
Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, daß sie der Rechtfertigung nicht bedarf
Die weibliche Form hingegen muss eigens gekennzeichnet oder angeführt werden, damit sie ins Bewusstsein tritt. Beispiel: Chirurg – Chirurgin. Diese Form der Abweichung kann als symbolische Gewalt interpretiert werden.
Es ist jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens […] ausgeübt wird.
Eine kürzlich veröffentliche Studie zeigt, dass selbst angeblich geschlechtsneutrale Begriffe geschlechtsbeladen sind. Dementsprechend werden Begriffe wie Mensch, Person oder Leute meist mit Männern verknüpft.
Wohlgemerkt – wir reden hier nicht von einer männlichen Form einer Berufsbezeichnung oder vom generischen Maskulinum (z.B. Chirurg). Hier geht es um kollektive Begriffe, um Wörter also, die per Definition neutral sind. Und dennoch rufen selbst solche Begriffe das Bild eines Mannes oder einer männlichen Eigenschaft ins Gedächtnis.
Was für die einen lästiges Gendergaga ist, ist schlussendlich ein Spiegel unserer Gesellschaft. Was anscheinend neutral ist, ist es bei genauerem Hinsehen dann doch nicht.
Nach all den feministischen Debatten und Errungenschaften ist unsere Sprache nach wie vor von männlichen Denkmustern geprägt. Eine Frau kann als Chirurg bezeichnet werden, sie wird im generischen Maskulinum mitgedacht. Welcher Mann würde sich aber als Chirurgin bezeichnen lassen mit dem Hinweis, er werde bei dem Begriff einbezogen?
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.
Die Norm ist nach wie vor eine männliche. Das oben erwähnte Gedankenexperiment zeigt, wie eng Sprache mit dem Erschaffen von Bildern in unserem Kopf verbunden ist. Sprache schafft vermeintliche Realitäten und stiftet mitunter auch Verwirrung – wie im oben genannten Beispiel.
Sprache ist eine Form der Macht. Sprache kann unterdrücken. Sprache kann aber auch verbinden. Sprache ist wandelbar. Die Bilder, die Sprache automatisch in uns erzeugt, können sich verändern. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt aus dieser Form von Ungleichheit.