Klischees

Schlangenhaare

Schlangenhaare

Schlangen haben die Menschen schon immer fasziniert und gleichzeitig abgeschreckt. Aus der Bibel kennen wir die Schlange als Werkzeug des Teufels, als verführerisches Wesen. Bei den alten Griechen galt die Schlange als Wesen, das auf Heilpflanzen aufmerksam macht. Deshalb wurde die Schlange zum Zeichen der Ärzte und Apotheker. Und bei den Römern soll eine erschienene Schlange als Retter vor der Pest gewirkt haben.

Schlangenwesen

Weltweit lassen sich in Mythen und Legenden Wesen finden, deren Körper zum Teil menschlich und zum Teil eine Schlange ist: in Indien gibt es Nagas, in Tibet Lus, in Mexiko den Gott Quetzalcoatl und aus der griechischen Mythologie stammt die Medusa.

Medusa - bis heute Symbol für Weiblichkeit. Die einen interpretieren sie als Gefahr, die anderen sehen in ihr eine ungerecht behandelte und missverstandene Frau - etwas, das viele Frauen rund um den Globus nachempfinden können …

Schönheit wird zum Verhängnis

Medusa war einst eine wunderschöne Frau, die von vielen Männern begehrt wurde. Sie suchte Zuflucht im Tempel der Göttin Athene. Dort wurde sie vom Gott Poseidon vergewaltigt.

Als Athene davon erfuhr, bestrafte sie das Opfer, die Medusa, indem sie sie mit Schlangenhaaren entstellte und ihr die Gabe bzw. den Fluch des versteinernden Blickes verlieh. Von nun an versteinerte jeder, der sie erblickte.

Medusa wurde also in zweifacher Hinsicht Opfer: Opfer sexueller Gewalt durch Poseidon und Opfer weiblicher Eifersucht und Neid durch Athene.

Der Medusa-Mythos geht noch weiter: Perseus besiegte mit Athenes Hilfe die furchterregende Medusa. Er schlug ihr den Kopf ab und besiegte so den Schrecken der Medusa. Paradoxerweise waren es die Gewalt eines Gottes und der Neid einer Göttin, die Medusa erst zu dem Ungeheuer werden ließen, vor dem die Menschen Angst hatten.

Urgefühl Angst

Angst ist eines der Urgefühle. Angst war immer überlebensnotwendig. Angst hat es immer gegeben. Doch wie gehen wir mit diesem Urgefühl um?

Angst wurde oft in Mythen verarbeitet: Ein Held stellt sich mutig der Angst, einem Ungeheuer, das Angst verbreitet, und besiegt es. Durch das Erzählen solcher Mythen kann eine Form der Kontrolle erreicht werden, die Kontrolle über eine Angst, die Rationalisierung einer Angst. Dadurch verliert die Angst ihre Macht.

Feministische Interpretationen

Der furchterregende Aspekt der Medusa war jahrhundertelang ein zentrales Element in der Darstellung dieses Mythos. Einige Frauen haben jedoch die Erzählung, die erlebte Gewalt der Medusa, für sich genutzt bzw. ihr eine andere Deutung gegeben.

In Christine de Pizans (c.1364-1430) Stadt der Damen (1405) interpretiert sie die mythologische Figur der Medusa neu. Im Gegensatz zur üblichen Darstellung ist sie kein monströses, todbringendes Wesen. Sie ist vielmehr eine Frau, die es verdient, vor männlichem Unheil geschützt zu werden. De Pizan ist die erste, die den antiken Mythos feministisch umdeutet.

In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Medusa-Erzählung zur Unterstützung des Feminismus und der Forderung nach sexueller Selbstbestimmung genutzt. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Aufarbeitung der Gewalt gegen Frauen, zu der auch die Vergewaltigung gehört, die beispielsweise in der Ehe lange Zeit nicht als Gewalttat angesehen wurde.

Die Geschichte der Medusa fasziniert und inspiriert die Menschen seit Jahrtausenden. Noch heute verbindet die Medusa die Überlieferungen der Vergangenheit mit der Gegenwart. Schließlich sind die verschiedenen Aspekte, Motive und Themen des griechischen Mythos heute noch genauso aktuell wie vor einigen tausend Jahren.

Literaturhinweise:

  • Garber, Marjorie B. und Nancy J. Vickers (Hrsg.). 2003. The Medusa Reader. Routledge.
  • Haynes, Natalie. 2023. Stone Blind: A Novel. HarperCollins Publishers.
  • Leonard, Miriam und Vanda Zajko. 2008. Laughing with Medusa: Classical Myth and Feminist Thought. OUP Oxford.
  • Sullivan, James A. 2024. Schlangen und Stein: Das Erwachen der Medusa. Ein modernes Retelling des Medusa-Mythos. Piper Verlag GmbH.