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Schubladendenken

Schubladendenken

Deutschland vor rund 2000 Jahren - ein menschlicher Körper versinkt im Moor. Die Hände gefesselt, die Augen verbunden, eine Kopfhälfte kahl geschoren. Ein Ritualmord? Eine Hinrichtung? Das ist der Stoff, aus dem Thriller gemacht werden!

Es dauert nicht lange, bis man bei solch spannenden Geschichten ins Grübeln kommt und die Fantasie Fahrt aufnimmt. Doch was passiert, wenn man aufgrund von Klischees und Stereotypen Schlüsse zieht und diese für plausible Wahrheiten hält? So geschehen bei der Moorleiche von Windeby, die aufgrund von Schablonendenken fälschlicherweise als Frau identifiziert wurde.

Moorleiche von Windeby

1952 wurden in der Nähe von Eckernförde in Deutschland gut erhaltene menschliche Überreste gefunden. Der Fund wurde als Moorleiche von Windeby bekannt. Schnell war man sich einig: Es handelt sich eindeutig um eine Frau.

Doch wie war es dazu gekommen? Eine Binde um die Augen, die linke Kopfhälfte kahl geschoren, die Faust geballt - alles Zeichen einer Ehebrecherin, einer zum Tode Verurteilten. Der Fund ließ also keinen Zweifel: Hier wurde einst eine Ehebrecherin bestraft.

Bereits in den 1960er Jahren kamen erste Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie auf. Doch diese Bedenken fanden zunächst kein Gehör. Die Moorleiche als bestrafte Ehebrecherin war einfach eine zu gute Erklärung. Doch nach und nach änderte sich diese Wahrnehmung und die Glaubwürdigkeit der ursprünglichen Theorie begann zu bröckeln.

Mystische Moore

Moore - das sind mysteriöse Orte, die die Fantasie der Menschen beflügeln. Einige Menschen wurden im Moor bestattet, was natürlich weniger spannend ist, als wenn sich dahinter ein Ritualmord oder eine Hinrichtung verbirgt. Moorleichen geben immer noch Rätsel auf. Ein Geheimnis ist inzwischen gelüftet: Die Moorleiche von Windeby war mit Sicherheit keine Frau und Ehebrecherin.

Im Jahr 2006 konnte endgültig nachgewiesen werden, dass es sich beim Fund um einen etwa 16-jährigen Jungen handelt, der vor etwa 2000 Jahren an einer Zahnerkrankung starb. Ein Junge, der in der römischen Kaiserzeit lebte und nach heutigem Verständnis eher ungewöhnlich bestattet wurde.

Denken in Schubladen

Keine Frau, keine Ehebrecherin, keine Verurteilte - alle ursprünglichen Theorien wurden widerlegt. Unsere Gesellschaft denkt in Schubladen, unser Gehirn neigt dazu. Dadurch werden aber auch bestehende Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen, Gruppen, Religionen etc. immer wieder verfestigt oder neu geschaffen.

Die Blaupause, die wir von der Welt in uns tragen, passt schließlich nicht auf jeden Menschen und nicht auf jedes Ereignis. Das könnten wir uns von Zeit zu Zeit bewusst machen.

Literaturhinweise:

  • Brock, Thomas. 2009. Moorleichen: Zeugen vergangener Jahrtausende. Theiss.
  • Habicht, Michael E. & Joacheim H. Schleifring. 2023. Mumienforschung/Die Mumie in Europa: Heilige, Monarchen, Mordopfer. epubli.

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