Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage - diese Worte stammen aus der Tragödie Hamlet des berühmten William Shakespeare. Sein oder Nichtsein, das ist auch die Frage, wenn man über Frauen in den verschiedenen Epochen nachdenkt. Sein oder Nichtsein - wie war das, Joan Shakespeare, jüngere Schwester des weltberühmten William?
Die Erfindung der Schrift ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit. Aus einem vergessenen Raum der Geschichte, einem Raum des Vergessens, werden wichtige Ereignisse aufgezeichnet. Doch nicht alles wird aufgezeichnet, manchmal geht etwas verloren oder wird einfach falsch zugeordnet. Das passiert immer wieder, immer wieder wird die Geschichte durch neue Entdeckungen ein Stück weit umgeschrieben.
So geschehen kürzlich an der Universität Bristol: Ein verschollen geglaubtes Dokument brachte neues Licht ins Dunkel. Es war einst dem Vater von William Shakespeare zugeschrieben worden. Jüngsten Forschungen zufolge war jedoch Williams jüngere Schwester, Joan Shakespeare, die Verfasserin des Textes - eine bisher relativ unbekannte Persönlichkeit.
Das Dokument, das ihr jetzt zugeordnet werden konnte, ist ein religiöses Traktat. Darin wird beschrieben, wie man einen guten katholischen Tod stirbt. Das Spannende daran ist, dass es in einer Zeit verfasst wurde, in der der Katholizismus stark verpönt war.
Das Dokument, das von einer gewissen Person namens J. Shakespeare von Hand geschrieben und unterschrieben wurde, war ein leidenschaftliches Bekenntnis zum katholischen Glauben zu einer Zeit, in der die protestantische Kirche in England mit dem Katholizismus auf Kriegsfuß stand. Seine Entdeckung hätte Folter und Tod bedeuten können. J. steht jedoch nicht, wie bisher angenommen, für John, den Vater von William Shakespeare, sondern für Joan, Williams Schwester.
Joan Shakespeare (1569–1646) war fünf Jahre jünger als ihr Bruder William. Sie verbrachte ihr ganzes Leben in Stratford-upon-Avon in England. Sie war vermutlich mit einem mittellosen Hutmacher verheiratet und hatte vier Kinder.
Es gibt nur wenige Dokumente aus dem Leben von Joan Shakespeare, in denen sie überhaupt namentlich erwähnt wird. Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf schrieb einen berühmten Essay mit dem Titel “Shakespeares Schwester”. Jemand wie Shakespeares Schwester, schrieb Virginia Woolf, konnte nie hoffen, Schriftstellerin zu werden.
Es ist undenkbar, daß irgendeine Frau zu Shakespeares Zeit Shakespeares Genie hätte besitzen können. Denn ein Genie wie das Shakespeares wird nicht im schwer arbeitenden, ungebildeten, knechtischen Volk geboren. […] Es wird heute nicht in der Arbeiterklasse geboren. […] Dennoch muß es sowohl unter Frauen wie auch in der Arbeiterklasse eine Art von Genie gegeben haben.
Virginia Woolf schrieb zwar über eine fiktive Schwester, die sie Judith nannte. Das Zitat gilt aber auch für die reale Schwester von William Shakespeare, Joan Shakespeare, und für alle anderen Frauen ihrer Zeit.
Während von ihrem Bruder Hunderttausende von Worten überliefert sind, gab es von ihr bis zu den neuen Entdeckungen über ihr Leben kaum ein Wort. Damit steht sie symbolisch für all die verlorenen Frauenstimmen der Frühen Neuzeit, die verstummt sind, von denen kaum etwas überliefert ist.
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