Philosophie

Gelebte Philosophie

Gelebte Philosophie

Die Französin Simone Weil (1909-1943), die den Kapitalismus und den Marxismus kritisierte, war eine einflussreiche Philosophin und Aktivistin während eines dunklen Kapitels der europäischen Moderne.

Wer war diese Frau, eine der bedeutendsten Denkerinnen und Gesellschaftskritikerinnen des 20. Jahrhunderts, die in Philosophiebüchern häufig ignoriert wurde? Albert Camus nannte sie den einzigen großen Geist unserer Zeit, der Philosoph Giorgio Agamben bezeichnete sie als das klarste Gewissen. Für Hannah Arendt war sie möglicherweise der einzige Mensch, der das Thema Arbeit ohne Sentimentalität und Vorurteil behandelt hatte, und für Heinrich Böll lag Simone Weil wie eine Prophetin auf seiner Seele.

Nahrung für alle

Simone Weil studierte Philosophie. Eine ihrer Kommilitoninnen war die spätere Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir. In einem Gespräch sagte Weil, dass es einer Revolution bedarf, um allen Menschen weltweit Essen zu geben. Beauvoir fand, dass die Menschen wohl eher den Sinn ihrer Existenz finden sollten. Daraufhin entgegnete Weil, dass Beauvoir wohl noch nie Hunger gelitten hätte.

Am eigenen Leib erfahren

Simone Weil wusste, wovon sie sprach. Sie lebte ihre Theorien, wollte alles genau verstehen, jeden Aspekt mitdenken und soweit wie möglich selbst erleben. Ihre Theorien sollten nicht abstrakt sein, sondern von der Praxis handeln und darauf aufbauen.

So ließ sie sich von ihrem Lehrerposten beurlauben, um in Fabriken zu arbeiten und die Lebensbedingungen der Arbeiter am eigenen Leib kennenzulernen. Ihre Erlebnisse und Gedanken notierte sie detailliert in ihrem Fabriktagebuch.

Simone Weil empfand die Fabrikarbeit als Sklavenarbeit. Sie fand, dass der Mensch durch diese Tätigkeiten entwurzelt wird. Der Mensch verliere seine Würde, da er durch die nötige Fügsamkeit und Gewalt in Form des täglichen Zwangs zur Verrichtung seiner Arbeit zerbreche. Ferner müsse die Technik sich dem Menschen anpassen, nicht umgekehrt – so Simone Weil.

Kritik an Marx

Simone Weil kritisierte Karl Marx und seine Theorien. Laut ihr haben diejenigen, die eine Arbeiterklasse fordern, noch nie selbst einen Fuß in eine Fabrik gesetzt. Sie kennen weder die Arbeitsbedingungen noch die Bedürfnisse der Arbeiter.

Für Weil war der Marxismus eine reine Utopie, die mit der Realität nicht kompatibel war. Selbst bei der Planwirtschaft blieben hierarchische Strukturen erhalten. Die Macht wird lediglich von einem Eigentümer (Kapitalismus) auf einen Betriebsleiter (Marxismus) verlagert. Unterwerfung und Entwurzelung bleiben jedoch bestehen.

Entwurzelung & Einwurzelung

Aber auch in anderen Bereichen findet eine Entwurzelung statt. Simone Weil bezeichnete die Entwurzelung als gefährlichste Krankheit der Menschheit. Angelehnt an den Zweiten Weltkrieg beschrieb sie, wie eine Entwurzelung stattfindet, wenn ein anderes Land mit Militärgewalt bezwungen wird.

Und wenn es nicht um militärische Macht gehe, dann könne genauso gut Geld diesen Zwang ausüben, der schließlich eine Entwurzelung hervorrufe. Egal auf welche Art und Weise eine Entwurzelung auftrete, diese führe entweder zu einer Trägheit, die dem Tode ähnle, oder zum Bestreben, andere auch zu entwurzeln.

Weil sah in der Einwurzelung eine Chance, dem Menschen seine Würde zurückzugeben. Dieses Wurzeln schlagen oder Verwurzeln bedeute unter anderem eine Teilhabe an einer Tradition und, im Falle der Arbeiter, an Grundeigentum. Dies wiederum schaffe eine neue Perspektive hin zum Bejahen des eigenen Lebens.

Freiheit

Idealerweise ist Freiheit das Ziel. Denn jeder Mensch trägt ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit in sich. Der Mensch hat die Fähigkeit zu denken und kann allein deshalb einer Knechtschaft niemals zustimmen. Die Freiheit bleibt das höchste Streben.

Gleichzeitig riet Simone Weil -ein wenig widersprüchlich- das Böse in der Welt und das damit verbundene Leid zu ertragen. Sie war der Auffassung, dass Leid ein Weg zu sich selbst und vielleicht auch zu Gott sei.

Aufmerksamkeit

Durch Aufmerksamkeit soll das Ich aufgelöst und zum Nicht-sein werden. Der Mensch stehe schließlich permanent in irgendwelchen Beziehungen, die sein Handeln beeinflussen. Die Aufmerksamkeit soll nach Innen und nach Außen in die Welt gelenkt werden, was buddhistischen Einfluss erkennen lässt.

Krieg

1932 reiste Simone Weil nach Deutschland, um sich selbst ein Bild von der politischen Situation und den Verhältnissen der Arbeiter zu machen. Sie kam zum Schluss, dass Hitler und der Nationalsozialismus in den kommenden Jahren an Macht und Einfluss gewinnen würden.

Dies würde zeitgleich, so folgerte sie weiter, einen organisierten Massenmord und die Unterdrückung von Freiheit und Kultur mit sich bringen. Wie Recht sie doch behalten sollte…

Simone Weil war 1936 für kurze Zeit im Spanischen Bürgerkrieg im Einsatz. Auch diese Erfahrung, geprägt von einer maßlosen und sinnlosen Gewalt, wollte sie selbst erleben.

Liebe zu Gott vs. suspekte Kirche

Simone Weil, die jüdische Wurzeln hatte, entdeckte ihre Liebe zu Gott, obwohl sie dem Christentum nie beitrat. Sie hegte zeitlebens eine starke Abneigung und Skepsis allen Hierarchien gegenüber, die Macht auf andere ausübten. Und die Kirche zählte für sie zu solch einer Institution von Hierarchie und Macht.

Auch dem Luxus konnte Simone Weil nichts abgewinnen. Ihrem Gerechtigkeitssinn entsprechend trat sie die Hälfte ihres Lehrerinnengehalts an Arbeitslose ab und gab kostenlose Kurse.

Zudem kasteite sie sich selbst. Sie aß selten ausreichend und schlief wenig, was schließlich zu ihrem frühen Tod mit nur 34 Jahren führte.