Über Aspektwechsel und Geschichtsschreibung: Yeshe Dolma (1867-1910) - Gemahlin des Königs von Sikkim und Autorin einer bedeutenden Chronik.
Yeshe Dolma fungierte als Beraterin ihres Mannes und war stille Rebellin gegenüber den politischen Entwicklungen in Sikkim, einem ehemals buddhistischen Königreich im Himalaja. Sie agierte als Mediatorin und war die treibende Kraft und Mitautorin eines der bedeutendsten Werke über Sikkim.
Yeshe Dolma wurde in Lhasa, der Hauptstadt Tibets, in die Lhading Familie geboren. In 1882-1883 heiratete sie den König von Sikkim und seinen Halbbruder in Lhasa. Anschließend reiste sie als Königin nach Sikkim.
Dass eine Frau gleich mehrere Brüder heiratete, war in Tibet keine Seltenheit. Diese Vielmännerei, auch fraternale Polyandrie genannt, hatte in Tibet und den von der tibetischen Kultur beeinflussten Gebieten einen lange Tradition. Dabei standen ökonomische Gründe im Vordergrund, der Grundbesitz blieb so unter den Söhnen, ohne dass er geteilt werden musste. In der Regel galt der Älteste der Brüder als Familienoberhaupt.
Obwohl sie offiziell König und Königin von Sikkim waren, litten Yeshe Dolma und ihr Mann unter dem Einfluss von Britisch-Indien. Der zuständige britische Offizier, John Claude White, behandelte das Königspaar sehr hart und stellte sie sogar für etwa drei Jahre unter Hausarest.
Diese Zeit war von kolonialistischen Wettläufen geprägt. Britsch-Indien wollte Zugang zu neuen Handelsrouten, die nach Tibet führten. Es ging also um wirtschaftlichen Einfluss und politische Macht in der Region. Eingekesselt zwischen Tibet und Britisch-Indien erlebte Sikkim eine sehr schwierige Herrschaft. Sikkim wurde sowohl von den Briten als auch von Tibet unter Druck gesetzt.
Britische Expeditionen sollten neue Handelsrouten öffnen. Um das zu verwirklichen, investierte Britisch-Indien in die Infrastruktur, errichtete Straßen und Brücken in Sikkim. Auch wurden Werke über die Geschichte Sikkims verfasst. Allerdings handelte es sich dabei meist um idealisierte Darstellungen von Briten, in denen kolonialistische Aspekte und Sichtweisen eingewebt wurden. Manchmal sind solche Sichtwesen nur ganz dezent bemerkbar, gelegentlich lässt sich das aber auch ganz offentsichtlich erkennen.
Aber auch tibetische Mönche verfassten historische Berichte, in denen jedoch häufig religiöse Aspekte hervorgehoben wurden. So verwebte man beispielsweise Mythen und Legenden mit Wundertaten von religiösen Persönlichkeiten und schrieb eine Geschichte, die von dieser Sichtweise geprägt wurde.
Um den stark anglozentrischen oder den religiös geprägten Berichten über Sikkim entgegenzuwirken und um die persönliche Sichtweise der politischen Ereignisse zu dokumentieren, schrieb das Königspaar eine Geschichte über Sikkim in Tibetischer Sprache. Dieser Text wurde kürzlich ins Englische übersetzt: The Royal History of Sikkim.
Dieses Werk ist maßgeblich auf den Einfluss der Königin, Yeshe Dolma, zurückzuführen: Sie war sowohl Schlüsselfigur zur Realisierung als auch Autorin. Im Gegensatz zu traditionellen, tibetischen Geschichtswerken, die vielfach von Mönchen geschrieben wurden, zeigt dieses Werk eine persönliche und weltliche Sichtweise der Ereignisse.
Dies illustriert auf eindrückliche Art und Weise, wie leicht eine Sichtweise die Wahrnehmung von Ereignissen beeinflussen und prägen kann. Je nach persönlichem Hintergrund, aber auch je nachdem, was mit diesen Schriften erzielt werden möchte, ändert sich schnell eine Sichtweise und somit die Art der Darstellung.
Der Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.
Yeshe Dolma hat durch ihr Geschichtswerk für uns einen Aspektwechsel vollzogen. Sie hat uns andere Perspektiven aufgezeigt, die allein durch die kolonialistisch geprägten Werke aus Britsch-Indien oder den religiösen Texten verdeckt geblieben wären. Yeshe Dolma hat wortwörtlich Geschichte geschrieben.
Literaturhinweise:
.
Verwandter Beitrag: